Märchen. Jeder kennt sie, jeder hat von ihnen schon gehört. Wenn wir von ihnen reden, meinen wir alte Überlieferungen und Kindergeschichten. Viele denken an Ritter und Prinzessinnen. Dabei haben Märchen auch etwas seltsames an sich: Sie scheinen nie so ganz das zu sein, was sie sein sollten. Wir haben ein Bild von Ballkleidern und „Happy ends“ im Kopf, dabei sind viele von ihnen schon in den ersten Zeilen recht düster. In fast jeder Märchenverfilmung reitet ein Krieger in rasselnder Rüstung durch die Kulissen, dabei wurden diese Geschichten zu Zeiten aufgeschrieben und gesammelt, die eher von Napoleon und scheiternden Revolutionsversuchen in ganz Europa geprägt waren.

Märchen folgen nicht der Realität, weder der ihrer Verfasser, noch der unseren. Trotzdem wurzeln sie in den Dingen, die uns beschäftigen. Ist es also ein Wunder, das wir bis heute nicht von ihnen losgekommen sind? Denn was sind all unsere Adaptionen und Neuerzählungen anderes als das stetige Umstricken des alten Stoffes, der das Genre „Märchen“ erst ausmacht?

Hinter Märchen kann so viel mehr stecken als nur ein Märchen. Deswegen habe ich mir mal ein paar aus der Schublade gesucht und durchgelesen. Was ich gefunden habe? Das hier!

Wiederkehrende Geschichten

Märchen sind oft Variationen von einander. Sie werden schließlich von verschiedenen Menschen in verschiedenen Gegenden unterschiedlich weiter erzählt wurden. Aber auch unabhängig davon gibt es einige Handlungselemente, die oft vorkommen. Ein paar habe ich gesammelt.

„Redemption Arcs“ – von dem Karma kein Entkommen

Mir ist es früher nie aufgefallen, aber in erstaunlich vielen Märchen lässt sich der Hauptcharakter etwas zu Schulde kommen. Im weiteren Verlauf  muss er dann dafür gerade stehen. Es geht darum, dass er seine Lektion lernen.

In dem Märchen „Marienkind“, dass zur Sammlung der Grimms gehört, missachtet das Mädchen einen Befehl der heiligen Maria. Danach lügt sie, um es zu verbergen. Die gesamte weitere Handlung verläuft entlang ihrer Bestrafung – sie wird verstoßen und ihrer Stimme beraubt -und ihren wiederholten Chancen, das Vergehen wiedergutzumachen. Sie bräuchte ihren Fehltritt nur zugeben. Chancen die sie, Mal um Mal, vertut. Erst, als sie fälschlicherweise eines anderen Verbrechens angeklagt wird, wogegen sie sich als Stumme nicht verteidigen kann, ändert sich das. Sie findet sich vor dem Scheiterhaufen wieder und besinnt sie sich eines Besseren. Sie gesteht, bekommt ihre Stimme zurück und kann ihre Unschuld im zweiten Fall bezeugen.

Das Märchen vom König Drosselbart folgt einem ähnlichem Schema: Eine junge Prinzessin macht sich über jeden, der um ihre Hand anhält, derart gehässig lustig, dass sie alles und jeden verscheucht. Ihr Vater droht schließlich, sie mit dem nächsten umherziehenden Bettler zu verheiraten. Eine Drohung, die er wahr macht. Die Prinzessin ist gezwungen, in einfachen Verhältnissen zu leben und ihre hochnäsige Art fallen zu lassen. Als sie beginnt, sich mit den Entbehrungen im einfachen Leben abzufinden, gibt sich ihr Gatte als einer der früheren Interessenten und wohlhabender König zu erkennen und nimmt sie mit auf sein Schloss.

Von ganz Unten nach ganz Oben

Wer liebt sie nicht, die Geschichten, in denen diejenigen den Sieg davontragen, die der Logik nach im Nachteil sind? Das bekannteste Märchen mit diesem Muster ist wohl „Aschenputtel“. Die unterdrückte und ausgenutzte Stieftochter macht eine gute Partie und steht am Ende vor einem besseren Leben.

Aber auch in den häufigen Brüderkonstellationen, ist es immer der Jüngste, der „Dümmste“ oder Verlachteste, der den großen Gewinn absahnt. Der jüngste Müllerssohn bekommt den sprechenden Kater, der ihm zu einem Königreich verhilft, der „Dummling“ teilt sein Essen im Wald mit dem alten Männchen und bekommt als Dank den Weg zur goldenen Gans gewiesen.

Die Benachteiligten sind einfach die natürlichen Sympathieträger. Wir Menschen sehen es gerne, wenn sie gewinnen. Wir können uns in den meisten Fällen auf die eine oder andere Weise mit ihnen identifizieren. Deswegen fühlt ihr Erfolg sich dann so an, als könnten wir auch Erfolg haben. Wir wissen, dass es unrealistisch ist, aber in Märchen geht es dann. In Zeiten, in denen die allgemeine Bevölkerung es aufgrund von wirtschaftlichen oder politischen Verhältnissen schwer hatte, ist dieser Punkt nur noch relevanter.

Geschwister

Da wir gerade beim Thema sind: Geschwister. Derartige Beziehungen tauchen auffällig oft auf. 

In Märchen wie „Die zwölf Brüder“ oder „Die zwölf Schwäne“ ist es jeweils so, dass zwölf ältere Brüder aufgrund eines Zaubers oder Fluches in Vögel verwandelt wurden. Die jüngste Schwester muss diesen Fluch dann brechen, in diesen beiden Fällen durch ein Schweigegelübde. Dies kostet sie beinahe das Leben. In „Die zwölf Brüder“ leistet die Tochter so auch gleichzeitig Wiedergutmachung für einen Fehler des Vaters. Der Fluch ist wie ein Makel auf der Familie, wenn auch aus verschiedenen Ursachen. Die Hoffnung der Älteren ruht dann auf dem jüngsten Mitglied, das als Einzige nicht betroffen ist und somit an der Lösung arbeiten kann.

Ähnlich ist es in dem Märchen vom „Brüderchen und Schwesterchen“, in dem der Bruder von der Stiefmutter in ein Reh verwandelt wird. Die Schwester muss von da an auf ihn aufpassen. In diesem Märschen steht aber eher etwas anderes im Vordergrund, und das ist die Verbundenheit der beiden Geschwister. Sie halten zusammen, selbst als sie vor ihrer Stiefmutter fliehen und er aus dem verwunschenden Brunnen trinkt. Selbst, als sie Königin wird, nimmt sie ihren verwandelten Bruder mit auf ihr Schloss. In einem anderen Märchen schlagen zwei Jäger, Zwillingsbrüder, ein Messer in einen Baum, bevor sich ihre Wege trennen. Wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten geraten sollte, soll eine Seite der Klinge zu rosten beginnen. Im Verlauf der Handlung müssen sie sich gegenseitig von diversen Flüchen befreien.

Aber auch unangenehme Geschwisterbeziehungen sind vertreten: Stiefgeschwister stehen in Märchen fast immer in einem tödlichen Konkurrenzkampf zueinander. Dieses Recht haben sie allerdings nicht für sich alleine gepachtet: Im Märchen „Dreiäuglein, Zweiäuglein und Einäuglein“ schließen die älteren Geschwister das jüngste aus, weil es nur ein Auge hat, anders als der Rest der Familie. 

Spaßgeschichten

Und dann gibt es natürlich noch die Märchen, die einfach nur da sind, um ein paar Lacher aus den Zuhörern herauszukitzeln. „Das Märchen vom Schlauraffenland“ zum Beispiel, ist purer Nonsens, und das mit voller Absicht. Und auch die sehr kurze Geschichte vom „Mädchen von Brakel“ ließt sich eher wie ein Witz. Die Komik entsteht aus offensichtlichen Dummheiten, die die Charaktere begehen (Die Tür abschließen und dann denken „Hm, sicherer wäre die Tür doch, wenn ich sie mitnähme“ und in Folge die Tür abmontieren), oder einer Person, die alles wortwörtlich nimmt (Jemandem „schöne Augen zu zuwerfen – also, wirkliche Augen, die man zuvor einer Kuh ausgestochen hat).

Aber selbst in diesen Spaßgeschichten steckt manchmal noch eine kleine Moral: In „Das Lumpengesindel“ zum Beispiel, verhalten sich ein Huhn und ein Hähnchen in dem Wirtshaus, in dem sie übernachten, extrem undankbar und unhöflich. Das Märchen endet damit, dass der Wirt sich vornimmt „kein Lumpengesindel mehr ins Haus zu lassen, dass viel verzerrt aber nichts bezahlt“. Darin steckt wohl eine kleine Warnung, nicht jedem blind zu vertrauen und auch zu erwarten, von Zeit zu Zeit über den Tisch gezogen zu werden.

Auch in einer Geschichte, in der eine Bratwurst, eine Maus und ein Spatz eine Wohngemeinschaft gründen geht es um mehr als nur diese absurde Ausgangssituation. Jeder der drei Mitbewohner hat seine speziellen Aufgaben im Haushalt, die sie aber im Laufe der Geschichte untereinander tauschen. Dies führt zu heillosem Chaos und dem Fazit, das jeder bei seinen eigenen Talenten bleiben sollte.

Kleine Dinge, die mir aufgefallen sind

Wieso findet es niemand komisch, dass die Königstochter in „Der Froschkönig“ selbst zur Tür geht, als es klopft? Das wird ja wohl nicht die Standardprozedur bei Hofe gewesen sein. Ein weiterer Punkt, an dem man erkennen kann, das Märchen aus dem Alltagsleben der Menschen, die sie erzählen, wachsen: Eine Prinzessin öffnet einem Besucher zwar nicht selbst die Tür, aber eine Tochter in den meisten Familien wohl schon.

Und warum finden die letzten paar Sätze, die epilogartig an die Haupthandlung anschließen so wenig Beachtung? Ich meine nicht das „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, sondern den letzten Fetzen Geschichte, der da manchmal noch dran hängt. „Das tapfere Schneiderlein“ zum Beispiel, endet nicht mit der Hochzeit des Schneiderleins. Vielmehr findet seine Frau danach heraus, dass er in Wirklichkeit ein Schneider ist und unternimmt noch einen Versuch, ihn wieder loszuwerden. 

Mein persönlicher Liebling ist das Ende von „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“: Am Ende des Märchens hat unser Held zwar das Spukschloss erlöst und die Prinzessin geheiratet, aber das Fürchten konnte ihm doch noch keiner zeigen. Das macht das Ganze für ihn zu einem eher unbefriedigenden Abschluss. Zum Glück nervt sein Gebrabbel vom Fürchten seine frisch angetraute Frau irgendwann so sehr, dass sie sich Rat bei ihrer Zimmerzofe einholt. Die clevere Zofe organisiert ihr daraufhin einen Eimer voller Flusswasser, samt kleiner Fische – Eine Ladung, die den Protagonisten endlich das Fürchten lehrt!

Märchen sind ein viel zu großes und viel zu komplexes Thema, um in diesem Blogbeitrag auch nur ihre Oberfläche anzukratzen. Trotzdem wollte ich unbedingt ein wenig über sie schreiben. Märchen sind etwas, mit dem wir uns irgendwann nicht mehr bewusst beschäftigen, und das ist schade. Zwischen ihren Zeilen gibt es so viel zu entdecken. Ich hoffe, ihr konntet mit meiner kleinen Schatzsuche der Nostalgie etwas anfangen. Wenn ihr selbst noch irgendetwas Interessantes in euren Märchenbüchern findet, lasst es mich einfach wissen!

Bis dahin, habt aber noch eine schöne Woche!