Autorenblog

Monat: Mai 2019

„Schreiben ist wie…“ Eine Sammlung

Eine Sprache, die Bilder im Kopf der Leser heraufbeschwört, ist ein essentieller Teil des Geschichtenerzählens. Oft werden hierfür veranschaulichende Mittel wie Metaphern oder Vergleiche genutzt, vor allem, wenn es um etwas abstraktes wie Gefühle oder Ähnliches geht, dass sonst schwer zu beschreiben ist.

Da stellt sich die Frage: Ist nicht das Schreiben, das Aufbauen und Ausformulieren einer Geschichte, auch etwas eher abstraktes, das sich nur durch Vergleiche wirklich erklären lässt?

Ich denke, ja. Möglicherweise liegt das aber auch daran, dass ich aktiv nach solchen Vergleichen suche… eine Angewohnheit 😉 

Also, warum nicht einen Beitrag daraus machen? Hier folgt meine kleine Sammlung von Sätzen, die mit „Schreiben ist wie…“ beginnen.

 

Schreiben ist wie Puzzeln. Manchmal zumindest. Man hat einige Stücke zusammen, einige Szenen, von denen man weiß, wie sie ablaufen werden, aber manchmal ist eine Lücke zwischen ihnen. Ein Puzzelteil fehlt, und man kriecht über den imaginären Boden, um dieses letzte Stück irgendwo doch noch zu entdecken. Versteckt es sich vielleicht hinter dem Charakter-Arc dieses Nebencharakters? Oder ist es unter das Worldbuilding gerutscht? Ohne diese eine Stelle scheint die Geschichte unvollständig zu sein. Man hat zwar die Eckstücke beisammen und ein Bild ist zu erkennen, aber in der Mitte prangt ein hässliches Loch, das gefüllt werden muss. Es kann aber auch so sein, dass verschiedene Stücke an verschiedene Stellen zu passen scheinen – dann muss man ein wenig herumprobieren, bis alle Zacken gut ineinander greifen und das fertige Ding vor einem liegt. Und weil ich Puzzle nie gerne mehr als einmal zusammengesteckt habe, ist, wenn alles fertig ist, nur noch eins zu tun: Alles auf Pappe zu fixieren und es stolz aufzuhängen. Aber das ist nur eine persönliche Vorliebe.

Schreiben ist, als würde man an einem Holzstück herumschnitzen, und einfach nicht aufhören. Vielleicht schnitzt man einen Löwenkopf, fängt an, die groben Züge des Tieres in das Material zu schneiden, arbeitet die Details immer feiner heraus, bis es als solcher erkennbar ist. Aber dann macht man trotzdem noch weiter, weil man immer noch Stellen findet, an denen dies oder das noch ein bisschen mehr abgerundet oder herausgestellt werden könnte, so lange, bis man mit einer Nadel daran herumkratzt und die Details selber fast nur noch mit einer Lupe erkennt, Irgendwann muss man aber aufhören. Sonst ist kein Löwenkopf mehr da.

Schreiben ist, als würde man ein Buch rückwärts lesen. Man kennt das Ende, findet aber erst nach und nach heraus, wie es wirklich dazu kam und wieso die Dinge so stehen wie sie es tun. Dinge, die man als gegeben hingenommen hat, beginnen, Sinn zu ergeben, während man über Begebenheiten stolpert, von denen man nicht wusste, dass sie vor diesem Ende passieren müssten.

Schreiben ist, als müsste man jemandem mit Händen und Füßen eine Wegbeschreibung geben. Man hat genau die Bilder der Orte und Straßen im Kopf, denen der Fremde folgen muss, ist aber in der Kommunikation auf ein Medium beschränkt und hat keine Möglichkeit zu überprüfen, ob der Gegenüber die Hinweise versteht.

Schreiben ist, als ob man blind einen Marathon läuft. Weil man es nicht sehen kann, fühlt es sich so an, als würde man dem Ziel nie näher kommen. Man läuft und läuft, und irgendwann beginnt man sich zu fragen, ob da überhaupt jemals ein Ende kommt. Bis man irgendwann angekommen ist. Dann fragt man sich nur noch, wie um alles in der Welt man von dort, wo man die Augenbinde angelegt hat und los gelaufen ist, an diesen vollkommen anderen Ort gelangen konnte.

Diese Liste mit fünf Beispielen ist natürlich alles andere als vollständig. Wenn ihr weitere Ideen habt, schreibt sie in die Kommentare! Ich bin gespannt, wie eure „Schreiben ist wie…“ Sätze aussehen.

Eine schöne Woche euch allen.

In der nächsten Woche wird es voraussichtlich keinen Beitrag geben – Ich werde im Urlaub sein.

Lektürenrückblick: „Mutter Courage und ihre Kinder“ von Bertolt Brecht

Heute ist es mal wieder an der Zeit für einen Griff ins Regal, um eine alte Schullektüre in Vorbereitung auf das mündliche Deutschabitur herauszuziehen. Dieses Mal ist das Drama „Mutter Courage und ihre Kinder“ von Bertolt Brecht an der Reihe. 

Grundsätzlich ist über dieses Stück zu sagen, dass es von Brecht unter den drohenden Vorzeichen des zweiten Weltkrieges im skandinavischen Exil geschrieben wurde. Dementsprechend ist es ursprünglich als eine Art der Warnung vor den Untiefen und Grausamkeiten des Krieges gedacht gewesen. Brecht hat versucht, die Sinnlosigkeit eines solchen Abschlachtens einzufangen. Dem folgend spielt die Handlung auch zur Zeit des dreißigjährigen Krieges im Schatten der verschiedenen Heere und an verschiedenen Orten.

Die Markentenderin Anna Fierling, die mit ihrem kleinen Wagen versucht, im Umfeld der Heereszüge Gewinn zu machen, zieht mit wechselnder Begleitung sowie ihren drei Kindern Eilif, Schweizerkas und Kattrin durch den Krieg. Ein Kind nach dem anderen stirbt dabei, während es der Mutter bis zum Schluss nicht gelingt, dass Elend, das der Krieg über sie gebracht hat, als solches zu erkennen.

Als Drama ist das Stück nach dem Stil von Brechts sogenanntem „epischen Drama“ verfasst, dass sich der traditionellen Struktur eines Dramas, also unter anderem dem klaren Aufbau in fünf Akten, entzieht, und stattdessen die Illusion des Theaters durch Ansprache des Publikums, eingestreute Musikstücke oder ähnlichem durchbricht. Um die Form des Erzählens, die Brecht wählt, erklären zu können, ist es wichtig dies im Hinterkopf zu behalten.

Er möchte den Zuschauer daran erinnern, dass er in einem Theater sitzt und sich Gedanken über das Stück zu machen hat.

„Die Schriftsteller können nicht so schnell schreiben, als die Regierungen Krieg machen können; denn das Schreiben verlangt Denkarbeit“

Bertolt Brecht

Egal, ob man sich bewusst Gedanken macht oder nicht, im Stück wird einem eines mit ziemlicher Sicherheit ins Auge fallen: Wie sehr die Figuren in ihren Aussagen und Meinungen schwanken. Dies sieht man nicht nur daran, wie schnell Mutter Courage und ihre Begleiter, einschließlich des evangelischen Feldpredigers, sich ins katholische Lager einfügen, als hätten sie nie zu den Evangelischen gehört, sondern besonders in den etlichen Gesprächen über Krieg und Frieden.

Die Charaktere sind opportunistisch. Sie versuchen ihre Haut zu retten, vor allem in der oben bereits erwähnten Szene, aber ihr Hang, situationsabhängig wechselnde Gesichter zu zeigen, ragt weit darüber hinaus in ihre sozialen Interaktionen und ihr Alltagsleben hinein.

Sätze wie „es gibt ja nix vollkommenes allhier auf Erden. Einen vollkommenen Krieg, wo man sagen könnt: an dem ist nix mehr auszusetzen, wirds vielleicht nie geben. (…) Plötzlich kann er ins Stocken kommen, an etwas unvorhergesehenem, an alles kann kein Mensch denken. Vielleicht ein Übersehen, und das Schlamassel ist da“, in dem der Krieg als etwas Gutes angepriesen und nur sein vorübergehendes Aussetzten zum Schönheitsfehler erklärt wird, und „Schuld sind die, wo Krieg anstiften, sie kehren das Unterste zuoberst beim Menschen“, in dem die grausamen Auswirkungen des Krieges eingeräumt werden, werden in derselben Szene von derselben Person gesagt.

Die einzigen Ausnahmen in diesem Meer von Wendehälsern stellen Mutter Courages erwachsene Kinder da, die alle je einen speziellen Wert verkörpern, nach dem sie, situationsunabhängig, handeln. Sie schlittern nicht von der einen in die andere Ansicht wie ihre Mitmenschen, sondern legen stets dieselben Maßstäbe an.

Diese Standhaftigkeit, wenn man so will, kostet sie alle drei das Leben. Die Umstände ihres Sterbens entlarven diejenigen um sie herum als die Heuchler, die sie sind:

Der älteste, Eilif, wird von seinen Kameraden und Vorgesetzten während des Krieges als Held gefeiert, als er den Bauern ihr Vieh stiehlt und sie selbst erschlägt. Als er jedoch dasselbe im kurzlebigem Frieden probiert, wird er als Verbrecher abgeführt, und dieselben Leute, die ihn vorher mit Lob überschüttet haben, schütteln nun nur noch den Kopf.

Ähnlich sieht es mit der Tochter Kattrin aus: Die Bauern vor Halle beten darum, dass die Wächter der Stadt aufwachen und den Ansturm des feindlichen Heeres bemerken. Als die stumme Frau daraufhin die Angelegenheit selbst in die Hand nimmt und zu trommeln beginnt, also genau das zu erreichen versucht, worauf im Gebet nur gehofft wurde, reagieren sie hysterisch und versuchen, sie unter Drohungen zum Aufhören zu bewegen. Zugegeben, die Situation der Bauern ist eine absolute Notsituation und Kattrins Getrommel zieht den Zorn der Feldherrn auf sie, welcher sie das Leben kosten könnte. Sie sind daher nicht direkt mit den Umstehenden bei Eilifs Ende zu vergleichen, aber der Grundsatz wird dennoch klar.

Darüber hinaus erscheinen die Prioritäten der Charaktere von Zeit zu Zeit etwas verdreht gesetzt zu sein: Ihr materieller Besitz steht bei ihnen höher im Kurs als das eigene Leben oder das derer um sie herum. Deutlich wird das, als Mutter Courage ihren Sohn Schweizerkas verliert, weil sie mit der Herausgabe des Bestechungsgeldes zu lange zögert und stattdessen verhandelt. Aber sie ist nicht die einzige, der diese Einstellung zum Verhängnis wird: Ein Bauernpaar wird in den Trümmern verschüttet, weil sie sich weigern, ihren Hof im Stich zu lassen, obwohl sie sich der Gefahr bewusst sind. Der Bauernsohn auf dem Hof, auf dem Kattrin sterben wird, weigert sich den Angreifern den Weg zur Stadt zu zeigen, in der er Verwandte hat, ja, er bleibt sogar standhaft, als man ihm mit dem Tod droht. Erst, als sein Besitz, das Vieh auf dem Hof, auf dem Spiel steht, knickt er ein.

Der Krieg kehrt in der Tat „das unterste zu oberst“, wie der Feldprediger sagt. Er formt die Menschen in opportunistische, egoistische Elendshäufchen, die ihm nicht entkommen können. Wer versucht, sich dem zu wiedersetzen, wird unter seinen Rädern zermalmt. Niemand gewinnt, auch, oder vor allem, die Mutter Courage nicht, obwohl sie sich ihrer Sache so sicher ist.

Letztendlich werden in den drei Kindern Eilif, Schweizerkas und Kattrin die menschlichen Werte Kühnheit, Ehrlichkeit und Gutherzigkeit erschossen, durch die Funktionäre eines scheinbar endlosen Krieges. Es ist kein Platz für sie da.

Ein zentrales Element von Brechts Werk ist dabei, dass keiner der Akteure im Drama dies versteht. Nach dem Tod ihrer Tochter hastet Anna Fierling dem nächsten Heereszug hinterher, immer noch in dem Glauben, mit ihrem verlumptem Wagen dort ihren Gewinn machen zu können. Dass es sie, die Prostituierte Yvette und all die anderen, die sie zeitweise begleiten schon viel mehr gekostet hat als es jemals wieder einbringen könnte, das kommt ihr nicht in den Sinn. Verstehen können nur wir, die Zuschauer. Verstehen sollen wir, und die Warnung annehmen. Der einfache Mann verliert im Krieg. Es gibt nichts zu gewinnen. Nicht auf den Schlachtfeldern des dreißigjährigen Krieges, nicht in den Schützengräben des ersten- und nicht in den Uniformen des zweiten Weltkrieges

 

Und ganz bestimmt nicht in einer nuklear zerstörten Landschaft.

 

Man könnte an diesem Drama noch einiges viel weiter ausführen. Die Fixierung auf das Materielle vieler Figuren wäre zum Beispiel mit Blick auf Brechts eigener, sehr linker politischer Einstellung interessant. Aber der Samstag neigt sich seinem Ende zu, und so beende ich diesen Blogeintrag an dieser Stelle.

Habt eine schöne Woche!

Poetische Lückenfüller # 4

Heute mal wieder ein kleiner, lyrischer Einschub. Ein kleiner Rückblick, vielleicht, jetzt, wo der Frühling endlich in Fahrt kommt, auf die Jahreszeit, die wir hinter uns gelassen haben 🙂

Schneemann

 

Ich bin ein Schneemann,

viele Stimmen,

die in weißer Kälte

glimmen,

jede Flocke hat

ein Leben

Die Summe wurde

mir gegeben.

Steh im Sturm 

und steh im Wind

bin im Herzen

nur ein Kind

kaum geboren,

viel gesehen,

kann keinen Schritt zur Seite gehen,

steh doch fest und stark.

 

Bin ein Schneemann,

lächle stumm

in der ganzen Welt herum

Schnee singt Lieder,

wenn auch leise,

singt von einer

Himmelsreise.

Ferne Wolken,

ferne Höhen,

hab ich tausendfach

gesehen,

sing in kalter Nacht.

 

Bin ein Schneemann,

seh durch Türen

Menschen an sich

selbst erfrieren.

Sonne blinzelt

mit Gefahr,

heller als die Sternenschar.

Schönheit liegt in Wintertagen,

aber leider

muss ich sagen

sind die Wesen

dafür blind,

betteln um den Frühling,

lind.

Seh ihn nahen,

seh mein Ende,

seh wie, ach, 

dieselben Hände,

die vor Tagen 

mich noch schufen

flehentlich nach 

Wärme rufen.

Alter Knabe,

schließ den Kreis!

Ein Mann wie ich,

so ganz aus Eis,

kann der Menschen Herz

nicht tauen,

kann nur weiter

Spiegel bauen.

Hilf ihnen, wo ich`s nicht wag –

Wünsche einen guten Tag!

 

 

 

 

Lektürenrückblick: E.T.A. Hoffmanns Sandmann

Obwohl meine schriftlichen Abiturklausuren mittlerweile hinter mir liegen, heißt das noch lange nicht, dass ich das Abitur durchgestanden habe. Die winzige Hürde, die es noch zu überwinden gilt, heißt „mündliche Prüfung“ und wird in meinem Fall im Fach Deutsch abgehalten.

Deutsch, dass bedeutet Sprache, Bücher und alles, was da zugehört. Und wie es der Zufall will, passt alles daran, korrekt umgesetzt zumindest, wie angegossen in diesen Blog. Also, wieso nicht beides verbinden?

Hier ist mein persönlicher Rückblick auf die erste Lektüre meiner Oberstufenlaufbahn: „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann.

„Du weißt ja aber wohl, dass ich zu dem wunderlichen Geschlecht der Autoren gehöre, denen, tragen sie so etwas in sich (…) so zu Mute wird, als frage jeder, der in ihre Nähe kommt und nebenher auch wohl die ganze Welt: „Was ist denn? Erzählen sie Liebster?““

E.T.A. Hoffmann, „Der sandmann“

Das Buch gehört dem Genre der Schauerromantik an, auf das ich später noch genauer eingehen werde und stammt aus dem Jahr 1816.

In ihm bricht das Leben des jungen Studenten der Physik, Nathanael, auseinander, als ein altes Kindheitstrauma aus seinem Gedächtnis hervorbricht und ihn, mit einem Ammenmärchen zu einer grotesken Schauervorstellung verwoben, immer tiefer in den Wahnsinn treibt. Trotz der Mühen seiner Verlobten Clara, ihres Bruders Lothar oder des Mitstudenten Siegmund gerät er in eine Abwärtsspirale, die immer weiter eskaliert, als er sich in die roboterhafte Olimpia verliebt, die sich tatsächlich als Automat herausstellt und die schließlich in dem versuchten Mord an Clara und seinem eigenen Selbstmord resultiert.

Hochzuverehrende Damen und Herren! merken sie denn nicht, wo der Hase im Pfeffer liegt? Das Ganze ist eine Allegorie – eine fortgeführte Metapher! – Sie verstehen mich! – Sapienti sat!“

Professor der Poesie und Beredsamkeit („Der sandmann“, e.t.a. Hoffmann )

Das Buch fällt in die Epoche der Romantik, die gewissermaßen als Gegenbewegung zur Aufklärung fungiert. Während dort der Verstand und das rationale gefeiert worden waren, wendete die Romantik sich dem mystischen, träumerischen und gefühlslastigen zu. Leidenschaft, (unglückliche) Liebe und das Übernatürliche gehören zu den Fäden, die sich durch sämtliche Werke ziehen. Fernweh, Sehnsucht und ein allgemeiner Eskapismus, also ein Wunsch, auszubrechen aus dem alltäglichem Leben und der offensichtlichen Welt, trieft aus allen Texten, wenn man sie nur stark genug auswringt. Dazu gehören auch eine Idealisierung der Natur und ein gewisser ( liberaler) Nationalismus. Zur historischen Einordnung: Nach der Vertreibung Napoleons waren die politischen Hoffnungen vieler Deutschen durch die restauratorischen Ansätze des Wiener Kongresses zermalmt worden. Desillusioniert konnten sie dem Eskapismus ihrer Kunstepoche also um so mehr abgewinnen.

Dieses spezielle Buch stammt, wie zuvor bereits genannt, allerdings aus einer speziellen Nische der Romantik, nämlich der Schauerromantik, die sich den unheimlichen und dunklen Seiten der Fantasie, der Gefühle und auch des Übernatürlichen zuwendet. Werke der Schauerromantik werden oft mit den englischen „Gothic Novels“ verglichen, die dort etwa zeitgleich in Mode waren, wie etwa Mary Shelleys „Frankenstein“. Im Falle des „Sandmanns“ wird dies vor allem im sich stetig steigernden Wahnsinn deutlich und auch in Nathanaels Andeutungen, er werde von einer dunklen Macht in Form des Sandmannes, beziehungsweise des Advokaten Coppelius oder auch später des Verkäufers Coppola verfolgt. In dem erzählerischen Element der Puppe Olimpia, in die Nathanael sich verliebt, kann auch eine Kritik am Streben der Wissenschaft nach der Perfektion von Maschinen gesehen werden, die den Menschen nie wirklich erreichen können.

Ein wichtiges Element der Geschichte soll die Unklarheit des Lesers darüber sein, ob das Geschehen durch eine äußere, böse Macht beeinflusst wird oder sich lediglich in Nathanaels Kopf abspielt. Hierfür wird ein teilweise unzuverlässiger Erzähler eingesetzt und viele Szenen sind so geschrieben, dass man sie auf verschiedene Arten verstehen kann.

Persönlich halte ich jedoch diese Einteilung in „dunkle Macht ist vorhanden“ oder „dunkle Macht ist nicht vorhanden“ für eher unzureichend. Die beiden Ideologien, die im Buch gegeneinander prallen sind vielmehr die Vorstellung Claras, die von ihrem Bruder Lothar unterstützt wird, die die Existenz von dunklen Mächten zwar nicht grundsätzlich verneint, diese aber als Gedankengebilde ansieht, die nur dann Gewalt über einen Menschen haben, wenn ihnen der entsprechende Platz im Denken der entsprechenden Person eingeräumt wird, und die Vorstellung Nathanaels, nach der die Dinge außerhalb seiner Gewalt liegen und er zum Scheitern verurteilt ist. Die Frage lautet folglich: „Sind wir dieser Gewalt ausgeliefert oder hat sie nur so viel Macht, wie wir ihr durch unsere Ängste geben?“

Auch diese Frage wird durch das Buch allerdings nur unklar beantwortet. Auch hier ist beides möglich: Die Idee der Bedrohung hat sich unzweifelhaft in Nathanaels Bewusstsein eingenistet, er spürt sie, wo auch immer er hingeht. Er grübelt aktiv darüber nach und vergräbt sich selbst tiefer in der Idee von Gefahr, sodass er sich von seiner Umgebung abkapselt und durch seine krampfhafte Überzeug so dem Wahnsinn, der ihn befällt, überhaupt erst Macht über sich gibt. Allerdings kann man genauso davon ausgehen, dass Mächte außerhalb seiner Reichweite ein dunkles Netz um den jungen Studenten gesponnen haben, aus dem er, wie aus dem Feuerkreis, der in seinen Vorstellungen wiederkehrend auftaucht, nicht entkommen kann. Wann immer er rückfällig wird oder der Sandmann in sein Leben zurückkehrt, ging dem meistens eine Aktion eines anderen, von ihm Verdächtigtem voraus, sodass man hier durchaus Kausalitäten sehen könnte.

Darüber hinaus wir Nathanael im Buch als schwärmerischer Dichter charakterisiert, als typischer Romantiker, dessen Vorstellungen jedoch im Gegensatz zur Lebenswelt der rationalen Clara stehen. In einem Streit schimpft er sie „lebloses, verdammtes Automat“, nach dem sie ihn bittet, ein schauerliches Gedicht an dem er gearbeitet hat, ins Feuer zu werfen.

Als Romantiker und Künstler ist er in seinem Umfeld also unverstanden und isoliert.

Der Spruch vom Automaten erweist sich jedoch als ironisch, als Nathanael sich in die seltsam steife Tochter seines Physikprofessors verliebt, Olimpia, in der er die verwandte Seele zu erkennen glaubt, die er in Clara vermisst, die seinen Mitstudenten jedoch vor allem leblos erscheint. Auch hier sind es die Vorstellungen Nathanaels, die er auf die Puppe projiziert, die sie für ihn so anziehend erscheinen lassen.

Als die Puppe jedoch in einem Skandal als das, was sie ist, entlarvt wird, verliert Nathanael endgültig den Halt zur Realität, als auch diese Träume als leere Gebilde enttarnt werden.

Bemerkenswert ist allerdings auch, dass Olimpia erst Nathanaels Aufmerksamkeit findet, nach dem er durch ein Fernglas geblickt hat, dass er dem Händler Coppola abgekauft hat, zuvor erscheint sie ihm eben so leblos wie allen anderen, erst danach glaubt er einen verständigen Blick in ihren, zuvor als tot beschriebenen, Augen zu sehen.

Als er im dramatischen Klimax der Geschichte aus versehen Clara durch eben jenes Fernglas betrachtet, sieht er in der lebendigen Verlobten einen schrecklichen Automaten, was zu der finalen Raserei und dem versuchten Mord an dem Mädchen führt, als er sie für eine Holzpuppe, wie Olimpia es war, hält.

Obwohl der Leser während der Lektüre im Unklaren darüber sein soll, wie viel des von Nathanael Empfundenen der erzählerischen Wirklichkeit entspricht, muss ich sagen, dass ich das Buch von Anfang bis Ende so gelesen habe, als würde eine dunkle Macht in Gestalt von Coppelius/Coppola gegen Nathanael intrigieren. Es mag daran liegen, dass ich zu viele Fantasyromane gelesen habe und folglich die Existenz eines schwarzmagischen Gegenspielers als natürlich gegeben ansehe, aber ich fand immer, dass diese Interpretation auch im Zusammenhang des Textes Sinn macht.

Nathanael ist in bester geistiger Verfassung, als er Coppola das Fernglas abkauft, ja, er hat sogar Claras Rat befolgt und beschlossen, seine Verdächtigungen gegen den Mann ruhen zu lassen. Sobald er jedoch durch das Glas blickt, nimmt das Unheil seinen Lauf, und auch am Ende der Geschichte erscheint Nathanael als geheilt, er ist glücklich wieder mit Clara vereint, bis er erneut durch das Fernglas schaut. Der Umstand, das Coppelius in der Menschenmenge steht, als Nathanael vom Turm springt, ist ebenfalls bemerkenswert. Die Berichte aus Nathanaels Kindheit können wohl als Fieberträume eines Jungen abgetan werden aber mir schienen die Erlebnisse des erwachsenen Nathanael doch ein wenig zu sehr mit den Handlungen dieser Personen verwoben. Darüber hinaus finden sich im ursprünglichen Manuskript Hoffmanns gestrichenen Abschnitte, die diese Ansicht unterstützen.

Aber um die Geschichte nicht mit hypothetischen Bedeutungen zu überladen, wie man es vielleicht könnte, ziehe ich hier vorerst einen Schlussstrich. Ich möchte ja schließlich nicht enden wie jener Poesieprofessor, der im Buch das gescheiterte Experiment seines naturwissenschaftlichen Kollegen mit den Worten „Versteht ihr denn nicht, es ist eine Metapher!“, kommentiert, während der restliche Campus noch in Schockstarre darüber steht, dass man ihnen einen Roboter als Mensch untergejubelt hat.

Obwohl dieser letzte Teil eine sehr gelungene Darstellung der Realität ist, wenn man mich fragt. Der Physikprofessor probiert etwas unmöglich hirnrissiges aus einfach weil er glaubt, dass er es kann, jeder normale Mensch steht im Schock daneben, während der Poesieprofessor einen gesellschaftskritischen Kommentar hineininterpretiert. Akkurate Darstellung beider Arbeitsbereiche.

Die Begeisterungen Hoffmanns gleichen oft den Einbildungen, die ein unmäßiger Gebrauch des Opiums hervorbringt und welche mehr den Beistand des Arztes als des Kritikers fordern möchten“

Walter Scott (Übersetzung: Johann wolfgang goethe)

Zu Guter letzt halte ich es für angebracht, auch noch einmal auf die Stimmen von Zeitgenossen zu schauen, die sich in diesem Fall allerdings etwas zurückhalten, beziehungsweise vor allem im deutschen Raum oft weniger begeistert auftraten. Derselbe Aufsatz, aus dem das obige Zitat stammt (Goethe übersetzte und verschärfte nur das Ende der Beschprechung Scotts) führte im Ausland, vor allem in Frankreich, allerdings zu einer gewissen Popularität des „Sandmanns“.

Schön zu wissen außerdem, dass „der Autor war auf Drogen“, keine Erfindung der Neuzeit ist.

Erwähnenswert wäre eventuell noch, dass der Name „Nathanael“ grundsätzlich dieselbe Bedeutung hat wie der Name „Theodor“, nämlich „Geschenk Gottes.“ Dies ist insofern interessant, als das „Theodor“ das „T“ in „E.T.A. Hoffman“ ist.

Ebenfalls interessant ist, dass der Autor laut seinem Geburtsnamen eigentlich „E.T.W. Hoffmann“ heißen müsste, sich aber aus Bewunderung für Wolfgang Amadeus Mozart dazu entschloss, seinen dritten Vornamen „Wilhelm“ in „Amadeus“ umzuwandeln. Überaus engagierte Fans sind also ebenfalls älter als man glaubt.

Außerdem gebührt Hoffmann Respekt dafür, dass er das Manuskript für „den Sandmann“ nur acht Tage nach angeblichem Schreibbeginn dem Verlag zukommen ließ. Glaubt man den Notizen an der bis heute erhaltenen Handschrift, hat er um ein Uhr Nachts den Stift zur Hand genommen. Man geht davon aus, dass das Manuskript vermutlich in einem Zug entstanden ist.

Das war es von mir diese Woche. Wenn ihr Interesse an der Schauerromantik und dem englischen Äquivalent, speziell Frankenstein, habt, und euch sicher in der englischen Sprache bewegt kann ich euch die Arbeit „Frankenstein – an appeal to weigh ethical responsibility with regard to advancement in scientific studies“ von v.H. Lazarus empfehlen, welche sich primär mit den wissenschaftskritischen Aspekten des Buches von Mary Shelley auseinandersetzt: https://vhlazarus.com/2019/01/15/frankenstein-an-appeal-to-weigh-ethical-responsibility-with-regard-to-advancement-in-scientific-studies/

Und damit verabschiede ich mich auch wieder. Eine schöne Woche euch allen!

© 2024 Frauke Mählmann

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