Obwohl meine schriftlichen Abiturklausuren mittlerweile hinter mir liegen, heißt das noch lange nicht, dass ich das Abitur durchgestanden habe. Die winzige Hürde, die es noch zu überwinden gilt, heißt „mündliche Prüfung“ und wird in meinem Fall im Fach Deutsch abgehalten.

Deutsch, dass bedeutet Sprache, Bücher und alles, was da zugehört. Und wie es der Zufall will, passt alles daran, korrekt umgesetzt zumindest, wie angegossen in diesen Blog. Also, wieso nicht beides verbinden?

Hier ist mein persönlicher Rückblick auf die erste Lektüre meiner Oberstufenlaufbahn: „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann.

„Du weißt ja aber wohl, dass ich zu dem wunderlichen Geschlecht der Autoren gehöre, denen, tragen sie so etwas in sich (…) so zu Mute wird, als frage jeder, der in ihre Nähe kommt und nebenher auch wohl die ganze Welt: „Was ist denn? Erzählen sie Liebster?““

E.T.A. Hoffmann, „Der sandmann“

Das Buch gehört dem Genre der Schauerromantik an, auf das ich später noch genauer eingehen werde und stammt aus dem Jahr 1816.

In ihm bricht das Leben des jungen Studenten der Physik, Nathanael, auseinander, als ein altes Kindheitstrauma aus seinem Gedächtnis hervorbricht und ihn, mit einem Ammenmärchen zu einer grotesken Schauervorstellung verwoben, immer tiefer in den Wahnsinn treibt. Trotz der Mühen seiner Verlobten Clara, ihres Bruders Lothar oder des Mitstudenten Siegmund gerät er in eine Abwärtsspirale, die immer weiter eskaliert, als er sich in die roboterhafte Olimpia verliebt, die sich tatsächlich als Automat herausstellt und die schließlich in dem versuchten Mord an Clara und seinem eigenen Selbstmord resultiert.

Hochzuverehrende Damen und Herren! merken sie denn nicht, wo der Hase im Pfeffer liegt? Das Ganze ist eine Allegorie – eine fortgeführte Metapher! – Sie verstehen mich! – Sapienti sat!“

Professor der Poesie und Beredsamkeit („Der sandmann“, e.t.a. Hoffmann )

Das Buch fällt in die Epoche der Romantik, die gewissermaßen als Gegenbewegung zur Aufklärung fungiert. Während dort der Verstand und das rationale gefeiert worden waren, wendete die Romantik sich dem mystischen, träumerischen und gefühlslastigen zu. Leidenschaft, (unglückliche) Liebe und das Übernatürliche gehören zu den Fäden, die sich durch sämtliche Werke ziehen. Fernweh, Sehnsucht und ein allgemeiner Eskapismus, also ein Wunsch, auszubrechen aus dem alltäglichem Leben und der offensichtlichen Welt, trieft aus allen Texten, wenn man sie nur stark genug auswringt. Dazu gehören auch eine Idealisierung der Natur und ein gewisser ( liberaler) Nationalismus. Zur historischen Einordnung: Nach der Vertreibung Napoleons waren die politischen Hoffnungen vieler Deutschen durch die restauratorischen Ansätze des Wiener Kongresses zermalmt worden. Desillusioniert konnten sie dem Eskapismus ihrer Kunstepoche also um so mehr abgewinnen.

Dieses spezielle Buch stammt, wie zuvor bereits genannt, allerdings aus einer speziellen Nische der Romantik, nämlich der Schauerromantik, die sich den unheimlichen und dunklen Seiten der Fantasie, der Gefühle und auch des Übernatürlichen zuwendet. Werke der Schauerromantik werden oft mit den englischen „Gothic Novels“ verglichen, die dort etwa zeitgleich in Mode waren, wie etwa Mary Shelleys „Frankenstein“. Im Falle des „Sandmanns“ wird dies vor allem im sich stetig steigernden Wahnsinn deutlich und auch in Nathanaels Andeutungen, er werde von einer dunklen Macht in Form des Sandmannes, beziehungsweise des Advokaten Coppelius oder auch später des Verkäufers Coppola verfolgt. In dem erzählerischen Element der Puppe Olimpia, in die Nathanael sich verliebt, kann auch eine Kritik am Streben der Wissenschaft nach der Perfektion von Maschinen gesehen werden, die den Menschen nie wirklich erreichen können.

Ein wichtiges Element der Geschichte soll die Unklarheit des Lesers darüber sein, ob das Geschehen durch eine äußere, böse Macht beeinflusst wird oder sich lediglich in Nathanaels Kopf abspielt. Hierfür wird ein teilweise unzuverlässiger Erzähler eingesetzt und viele Szenen sind so geschrieben, dass man sie auf verschiedene Arten verstehen kann.

Persönlich halte ich jedoch diese Einteilung in „dunkle Macht ist vorhanden“ oder „dunkle Macht ist nicht vorhanden“ für eher unzureichend. Die beiden Ideologien, die im Buch gegeneinander prallen sind vielmehr die Vorstellung Claras, die von ihrem Bruder Lothar unterstützt wird, die die Existenz von dunklen Mächten zwar nicht grundsätzlich verneint, diese aber als Gedankengebilde ansieht, die nur dann Gewalt über einen Menschen haben, wenn ihnen der entsprechende Platz im Denken der entsprechenden Person eingeräumt wird, und die Vorstellung Nathanaels, nach der die Dinge außerhalb seiner Gewalt liegen und er zum Scheitern verurteilt ist. Die Frage lautet folglich: „Sind wir dieser Gewalt ausgeliefert oder hat sie nur so viel Macht, wie wir ihr durch unsere Ängste geben?“

Auch diese Frage wird durch das Buch allerdings nur unklar beantwortet. Auch hier ist beides möglich: Die Idee der Bedrohung hat sich unzweifelhaft in Nathanaels Bewusstsein eingenistet, er spürt sie, wo auch immer er hingeht. Er grübelt aktiv darüber nach und vergräbt sich selbst tiefer in der Idee von Gefahr, sodass er sich von seiner Umgebung abkapselt und durch seine krampfhafte Überzeug so dem Wahnsinn, der ihn befällt, überhaupt erst Macht über sich gibt. Allerdings kann man genauso davon ausgehen, dass Mächte außerhalb seiner Reichweite ein dunkles Netz um den jungen Studenten gesponnen haben, aus dem er, wie aus dem Feuerkreis, der in seinen Vorstellungen wiederkehrend auftaucht, nicht entkommen kann. Wann immer er rückfällig wird oder der Sandmann in sein Leben zurückkehrt, ging dem meistens eine Aktion eines anderen, von ihm Verdächtigtem voraus, sodass man hier durchaus Kausalitäten sehen könnte.

Darüber hinaus wir Nathanael im Buch als schwärmerischer Dichter charakterisiert, als typischer Romantiker, dessen Vorstellungen jedoch im Gegensatz zur Lebenswelt der rationalen Clara stehen. In einem Streit schimpft er sie „lebloses, verdammtes Automat“, nach dem sie ihn bittet, ein schauerliches Gedicht an dem er gearbeitet hat, ins Feuer zu werfen.

Als Romantiker und Künstler ist er in seinem Umfeld also unverstanden und isoliert.

Der Spruch vom Automaten erweist sich jedoch als ironisch, als Nathanael sich in die seltsam steife Tochter seines Physikprofessors verliebt, Olimpia, in der er die verwandte Seele zu erkennen glaubt, die er in Clara vermisst, die seinen Mitstudenten jedoch vor allem leblos erscheint. Auch hier sind es die Vorstellungen Nathanaels, die er auf die Puppe projiziert, die sie für ihn so anziehend erscheinen lassen.

Als die Puppe jedoch in einem Skandal als das, was sie ist, entlarvt wird, verliert Nathanael endgültig den Halt zur Realität, als auch diese Träume als leere Gebilde enttarnt werden.

Bemerkenswert ist allerdings auch, dass Olimpia erst Nathanaels Aufmerksamkeit findet, nach dem er durch ein Fernglas geblickt hat, dass er dem Händler Coppola abgekauft hat, zuvor erscheint sie ihm eben so leblos wie allen anderen, erst danach glaubt er einen verständigen Blick in ihren, zuvor als tot beschriebenen, Augen zu sehen.

Als er im dramatischen Klimax der Geschichte aus versehen Clara durch eben jenes Fernglas betrachtet, sieht er in der lebendigen Verlobten einen schrecklichen Automaten, was zu der finalen Raserei und dem versuchten Mord an dem Mädchen führt, als er sie für eine Holzpuppe, wie Olimpia es war, hält.

Obwohl der Leser während der Lektüre im Unklaren darüber sein soll, wie viel des von Nathanael Empfundenen der erzählerischen Wirklichkeit entspricht, muss ich sagen, dass ich das Buch von Anfang bis Ende so gelesen habe, als würde eine dunkle Macht in Gestalt von Coppelius/Coppola gegen Nathanael intrigieren. Es mag daran liegen, dass ich zu viele Fantasyromane gelesen habe und folglich die Existenz eines schwarzmagischen Gegenspielers als natürlich gegeben ansehe, aber ich fand immer, dass diese Interpretation auch im Zusammenhang des Textes Sinn macht.

Nathanael ist in bester geistiger Verfassung, als er Coppola das Fernglas abkauft, ja, er hat sogar Claras Rat befolgt und beschlossen, seine Verdächtigungen gegen den Mann ruhen zu lassen. Sobald er jedoch durch das Glas blickt, nimmt das Unheil seinen Lauf, und auch am Ende der Geschichte erscheint Nathanael als geheilt, er ist glücklich wieder mit Clara vereint, bis er erneut durch das Fernglas schaut. Der Umstand, das Coppelius in der Menschenmenge steht, als Nathanael vom Turm springt, ist ebenfalls bemerkenswert. Die Berichte aus Nathanaels Kindheit können wohl als Fieberträume eines Jungen abgetan werden aber mir schienen die Erlebnisse des erwachsenen Nathanael doch ein wenig zu sehr mit den Handlungen dieser Personen verwoben. Darüber hinaus finden sich im ursprünglichen Manuskript Hoffmanns gestrichenen Abschnitte, die diese Ansicht unterstützen.

Aber um die Geschichte nicht mit hypothetischen Bedeutungen zu überladen, wie man es vielleicht könnte, ziehe ich hier vorerst einen Schlussstrich. Ich möchte ja schließlich nicht enden wie jener Poesieprofessor, der im Buch das gescheiterte Experiment seines naturwissenschaftlichen Kollegen mit den Worten „Versteht ihr denn nicht, es ist eine Metapher!“, kommentiert, während der restliche Campus noch in Schockstarre darüber steht, dass man ihnen einen Roboter als Mensch untergejubelt hat.

Obwohl dieser letzte Teil eine sehr gelungene Darstellung der Realität ist, wenn man mich fragt. Der Physikprofessor probiert etwas unmöglich hirnrissiges aus einfach weil er glaubt, dass er es kann, jeder normale Mensch steht im Schock daneben, während der Poesieprofessor einen gesellschaftskritischen Kommentar hineininterpretiert. Akkurate Darstellung beider Arbeitsbereiche.

Die Begeisterungen Hoffmanns gleichen oft den Einbildungen, die ein unmäßiger Gebrauch des Opiums hervorbringt und welche mehr den Beistand des Arztes als des Kritikers fordern möchten“

Walter Scott (Übersetzung: Johann wolfgang goethe)

Zu Guter letzt halte ich es für angebracht, auch noch einmal auf die Stimmen von Zeitgenossen zu schauen, die sich in diesem Fall allerdings etwas zurückhalten, beziehungsweise vor allem im deutschen Raum oft weniger begeistert auftraten. Derselbe Aufsatz, aus dem das obige Zitat stammt (Goethe übersetzte und verschärfte nur das Ende der Beschprechung Scotts) führte im Ausland, vor allem in Frankreich, allerdings zu einer gewissen Popularität des „Sandmanns“.

Schön zu wissen außerdem, dass „der Autor war auf Drogen“, keine Erfindung der Neuzeit ist.

Erwähnenswert wäre eventuell noch, dass der Name „Nathanael“ grundsätzlich dieselbe Bedeutung hat wie der Name „Theodor“, nämlich „Geschenk Gottes.“ Dies ist insofern interessant, als das „Theodor“ das „T“ in „E.T.A. Hoffman“ ist.

Ebenfalls interessant ist, dass der Autor laut seinem Geburtsnamen eigentlich „E.T.W. Hoffmann“ heißen müsste, sich aber aus Bewunderung für Wolfgang Amadeus Mozart dazu entschloss, seinen dritten Vornamen „Wilhelm“ in „Amadeus“ umzuwandeln. Überaus engagierte Fans sind also ebenfalls älter als man glaubt.

Außerdem gebührt Hoffmann Respekt dafür, dass er das Manuskript für „den Sandmann“ nur acht Tage nach angeblichem Schreibbeginn dem Verlag zukommen ließ. Glaubt man den Notizen an der bis heute erhaltenen Handschrift, hat er um ein Uhr Nachts den Stift zur Hand genommen. Man geht davon aus, dass das Manuskript vermutlich in einem Zug entstanden ist.

Das war es von mir diese Woche. Wenn ihr Interesse an der Schauerromantik und dem englischen Äquivalent, speziell Frankenstein, habt, und euch sicher in der englischen Sprache bewegt kann ich euch die Arbeit „Frankenstein – an appeal to weigh ethical responsibility with regard to advancement in scientific studies“ von v.H. Lazarus empfehlen, welche sich primär mit den wissenschaftskritischen Aspekten des Buches von Mary Shelley auseinandersetzt: https://vhlazarus.com/2019/01/15/frankenstein-an-appeal-to-weigh-ethical-responsibility-with-regard-to-advancement-in-scientific-studies/

Und damit verabschiede ich mich auch wieder. Eine schöne Woche euch allen!