Das Erzählen von Geschichten ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst – oder zumindest nur ein wenig jünger. In Anbetracht dessen wollte ich diesen Samstag den Fokus ein wenig von meinem eigenen Geschreibsel abwenden und einen Blick über die Schulter werfen. Genauer gesagt, auf die Art, wie sich das Schreiben von Geschichten im Laufe der Zeit verändert hat. Man könnte auch sagen: Hier kommt meine persönliche Sicht auf die Evolution von Schreibstilen.

Jeder Autor hat seinen eigenen Schreibstil, und so unterscheiden sie sich alle voneinander. Wenn man sich durch Bücher verschiedener Epochen arbeitet, fällt dennoch auf, dass sich Autoren, die außerdem Zeitgenossen waren, in einigen Punkten ähneln.

Dieser kleine Beitrag ist alles andere als vollständig. Es ist nur ein winziger Ausschnitt aus einem Gebiet, über das man eine ganze Bibliothek schreiben könnte. In über tausend Jahren Menschheits- und auch Literaturgeschichte sammelt sich einiges an. Und ich wäre die Allerletzte, die behaupten würde, auch nur Ansatzweise über diesen gigantischen Parpierberg Bescheid zu wissen. Trotzdem: Hier kommt ein kleiner Ausflug in die Geschichte.

Vieles an früher Literatur, die heute noch erhalten ist, stammt aus der Antike. Sowohl griechische, als auch römische Heldenepen haben sich gut gehalten und sind heute noch gut bekannt, aber auch philosophische Schriften und Lyrik wird noch heute als Teil unseres Kulturguts betrachtet.

Das Lesen dieser Texte gestaltet sich für viele von uns „heutigen“ Menschen jedoch recht unangenehm – und das nicht aufgrund von längst aus der Mode gekommenen Sprachen, es gibt schließlich Übersetzungen, sondern aufgrund der Schreibart. Versteht mich nicht falsch, ich weiß, dass es auch heute noch Menschen gibt, die mit gerne diese alten Texte lesen, ich selbst habe mich schon das ein oder andere mal daran versucht, aber es lässt sich nicht leugnen: Die Geschichten über Troja und Odysseus entsprechen einfach nicht ganz unserem heutigen Lesecomfort.

Wir sind es gewohnt, die Geschichte durch die Augen eines Charakters präsentiert zu bekommen, gewissermaßen in seinem Geist zu stecken und so mit ihm mit zu fiebern. Wir erhalten Kommentare zu den aktuellen Vorgängen über die Gedanken des Charakters, dem wir in diesem Augenblick folgen und sehen die Dinge von seiner Position aus. Dadurch entsteht eine unglaubliche Nähe zu den handelnden Personen.

Ein gutes Beispiel für diese heutige Art, zu schreiben, ist Harry Potter: Wir, als Leser, verfolgen die gesamte Reihe fast ausschließlich aus Harrys Perspektive. Wir wissen genauso viel wie er, wir kennen seine Ängste und die Vorgänge in seinem Kopf, aber nichts von dem, was außerhalb seiner Reichweite passiert. 

Alte Schreibstile sind oft anders. Sie platzieren den Leser nicht im Kopf der Hauptperson, sondern als unsichtbaren Beobachter neben ihn. Der Leser schaut dem Geschehen mit gewisser Distanz zu. Er erhält mehr Informationen über das Gesamtgeschehen   und Einblicke in die Psyche mehrerer Charaktere, aber diese bleiben deutlich oberflächlicher als wir es heute gewohnt sind. Innere Monologe oder ähnliches sind selten, sie werden meistens in wörtlichen Reden verpackt, wie zum Beispiel in Reden oder Gesängen oder vom Erzähler als Erklärungen angeführt. Selbst wenn in diesen Geschichten die Personen mal ein Selbstgespräch führen, habe zumindest ich das Gefühl, dass er seine Worte nicht wirklich an sich selber richtet, sondern an uns, die Zuschauer.

Während in heutigen Büchern der Leser also auf die ebene der Charaktere geholt wird, blickt er ihn alten Texten meistens von außerhalb auf das Geschehen.

 

Auffällig sind gerade bei alten Erzählungen und Mythen auch die langen Aufzählungen von Hintergrundinformationen, die oft viel Platz in der Geschichte einnehmen. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, wenn eine nordische Sage mit einem weit ausholenden Stammbaum des Hauptcharakteren beginnt oder eine spezielle Waffe mit einer seitenlangen  Lobpreisung ihrer wechselvollen Geschichte vorgestellt wird. Es ist, als würde der Erzähler den Pausenknopf in der Geschichte drücken, sich zum Publikum drehen und sagen: „Bevor wir weitermachen, solltet ihr wissen, dass …“

Heutzutage werden solche Informationen eher häppchenweise über die Handlung verteilt, manchmal müssen die Charaktere sie selber erst herausfinden, oder einer von ihnen erwähnt es nebenbei in einem Gespräch. Für jemanden, der diese Art zu lesen gewohnt ist, fühlt sich die obere Methode wie eine unangenehme Unterbrechung der Geschichte an, die ihn aus dem Lesefluss reißt.

Alles in allem ist heute der sogenannte personelle Erzähler, egal, in welcher Form, eindeutig viel weiter verbreitet als andere Erzählperspektiven, dem Leser wird das Gefühl vermittelt, die Geschichte laufe einfach irgendwo ab, und zwar, trotz möglicher Vergangenheitsform, jetzt gerade, und er würde es mit erleben, während in alten, epischen Texten oftmals deutlich darauf verwiesen wird, dass der Leser einer Nacherzählung beiwohnt. Der Erzähler, der kein handelnder Charakter ist, ist deutlich präsent und meldet sich immer wieder zurück. Er steht, wenn man so will, als Vermittler zwischen der Handlung und dem Leser. Heutige Bücher kommen über sehr weite Strecken ohne so etwas aus.

Der Grund für diesen Wandel ist möglicherweise in der wohl ursprünglichsten Form, Geschichten weiterzugeben zu finden: Die mündlichen Erzählungen.

Hat einer von euch schon einmal versucht, an einem Lagerfeuer oder bei ähnlichen Begebenheiten eine Geschichte zu erzählen? Wenn nicht, dann lasst euch sagen, dass es zumindest mir sehr schwer gefallen ist, diese Geschichte aus der Sicht eines speziellen Charakters wiederzugeben, so, wie ich es normalerweise tun würde. Bei mündlichen Erzählungen ist der Erzähler nun einmal vorhanden, und er kann sich nicht einfach hinter Buchseiten verstecken, so wie der Autor eines Buches es kann. Er ist da, sein Publikum kann ihn deutlich sehen. Vermutlich ist es in solchen Situationen der Erzählung einfach dienlicher, die Tatsache, dass es sich um eine Erzählung handelt in die Geschichte einzubinden. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Autoren dann möglicherweise mehr und mehr an die schriftliche Überlieferung gewöhnt und begannen mehr, die Geschichte selbst erzählen zu lassen.

Aber das ist nur eine Theorie.

Übrigens, viele der Merkmale, die ich hier alten Geschichten zugeordnet habe, sind mir auch in einem vergleichsweise neuem Buch aufgefallen, und zwar in Tolkiens „Herr der Ringe“. Auch seine Bücher sind durchsetzt mit Abschnitten, die nur der Klärung von Hintergrundinformationen dienen, und obwohl er die Gefühle seiner Charaktere gut transportiert, hat der Leser nie das Gefühl, direkt in deren Kopf blicken zu können, zumindest nicht so klar wie in noch neueren Büchern.

Da Tolkien aber bekanntermaßen ein großer Fan von alten Sagen war, ist das vermutlich aber nicht weiter verwunderlich.

 

Ich hoffe, meine kleine Ausführung hat euch nicht zu sehr gelangweilt. Es ist schon interessant, wie einzelne Puzzleteile an ihre Plätze fallen, wenn man länger über bestimmte Dinge nachdenkt.

Ein schönes Wochenende euch, und eine schöne Woche auch!